Gesamtkunstwerk „Winterreise“ – ein Fest für Augen und Ohren
Mühlenforum Glattbach bietet Sternstunden der Kammermusik mit einer großen Stimme und einem Klavierbegleiter der Extraklasse
Die Vorfreude war riesig bei den gut zwei Dutzend Musikfreunden, die unter Coronabedingungen am frühen Samstagabend eine Karte für ein Konzert der besonderen Art im Saal das Mühlenforums Glattbach mit seiner exzellenten Akustik „ergattert“ hatten: Zwei Musiker waren mit ihrer Interpretation von Franz Schuberts berühmtem Liederzyklus „Die Winterreise“ von 1827 angekündigt, der hochdekorierte junge Bariton Konstantin Krimmel, 1993 in Ulm geboren, und der 46-jährige Pianist Daniel Heide, der sich weit über seinen Wohnort Weimar hinaus europaweit einen glänzenden Namen als Klavierbegleiter erarbeitet hat. Einzelne der erwartungsfrohen Zuhörer waren mit besonders hohen Erwartungen nach Glattbach gekommen, weil sie im März letzten Jahren das Onlinestreaming der „Winterreise“ mit beiden Musikern aus dem Bockenheimer Depot miterlebt hatten – ein Highlight im virtuellen Angebot der Alten Oper Frankfurt.
Und dann wurden selbst die größten Erwartungen noch übertroffen. Das begann schon mit dem Eintritt in den Raum, an dessen Wänden die 24 großformatigen Farbkreidezeichnungen des Aschaffenburger Künstlers Siegfried Rischar den Grundstein für ein Gesamtkunsterlebnis legten – und das schon bevor Heide mit den zarten, wie suchend angeschlagenen ersten Tönen des „Gute Nacht“ das 80-minütige Konzerterlebnis einleitete. Schon in den ersten Minuten war klar, hier wurde in einem intimen, fast familiären Rahmen eine Qualität geboten, für die man sonst in die großen Musiktempel irgendwo in Deutschland reisen müsste – ein großes Geschenk für alle, die dabei sein konnten, wie denn ohnehin das Mühlenforum seit einigen Jahren kulturell weit über Glattbachs Grenzen hinaus ein wahrer Glücksfall für alle Kulturfreunde in der Region ist.
Mit glasklarer Artikulation, mit eher zurückhaltender, aber dennoch ausdrucksstarker Mimik und Gestik interpretierte Krimmel das „Fremd bin ich eingezogen“ und lotete schon in diesem Lied das große Gefühlspektrum voll aus, das in diesem Liederzyklus steckt: Hoffnung, Verzweiflung, Einsamkeit, Liebe, Todesangst und vor allem Todesssehnsucht – es gibt kaum ein menschliches Gefühl, das Schubert nicht in Töne gefasst und das Wilhelm Müller, der heute fast vergessene Textdichter der Romantik, nicht in Verse und Reime gebannt hat. Krimmel, kongenial unterstützt von Heide, spielte in den 24 Versen des „Gute Nacht“ alle Facetten des Zyklus durch und setzt sie zutiefst überzeugend um. Tiefe Resignation erklingt vom Flügel und in der Stimme bei „Nun ist die Welt so trübe, Der Weg gehüllt in Schnee“, hoffnungsvoll, mit viel Gefühl, aber nie pathetisch oder zu süßlich singt der Bariton das „Fein Liebchen, gute Nacht“ und versichert im letzten Vers die Geliebte – Grund für die Hoffnung und zugleich Ursache für Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit: „An dich hab ich gedacht.“
Ein Beginn, der Erwartungen weckte, die bei den folgenden 23 Liedern mehr als erfüllt wurden. Ein Genuss, wie intensiv und einfühlsam Heide schon bei den Vorspielen den Charakter der Lieder auf den Punkt brachte, beispielsweise die Kälte und Willkür der „Wetterfahne“ als Symbol für die Unberechenbarkeit des Schicksals, und ganz selten ist in dieser Qualität zu hören, wie Krimmel im letzten Vers „Ihr Kind ist eine reiche Braut“ in einer unvergleichlichen Mischung aus Verzweiflung und Verachtung Handeln und Pläne der Eltern seiner Geliebten entlarvt.
75 Einspielungen der „Winterreise“ zählt Wikipedia in den knapp 100 Jahren seit 1927 auf, höchst unterschiedliche Versionen von Richard Tauber bis Jonas Kaufmann, Versionen für Tenor, Bassbariton, Bass, Mezzosopran und Sopran – aber was der junge Bariton Daniel Krimmel mit seiner frischen, extrem variationsreichen Stimme im Mühlenforum bot, muss sich vor keinem der großen Interpreten verstecken. Dieses Urteil darf man wagen, selbst wenn man selbst „nur“ knapp ein Dutzend der anderen Interpretationen kennt. Ganz wichtig für dieses Erlebnis am Samstagabend neben der Glanzleistung des Sängers, der bruchlos und scheinbar völlig unangestrengt zwischen mächtiger Bruststimme und zartem Falsett wechselt, und dem idealen Gesamtkunstwerk-Ambiente: Daniel Heides Leistung am Klavier. Er findet genau den richtigen Weg zwischen eher zurückgenommener Liedbegleitung und dem klugen Verzicht darauf, sich in den Vordergrund zu spielen. Mit seinem Spiel rundete er das Konzert zu einer ausgewogenen Gesamtleistung zweier gleichberechtigter Akteure, von denen jeder seine Qualitäten voll ausspielen kann, ohne die Harmonie – gepaart mit der notwendigen kreativen Spannung – jemals aus den Augen zu verlieren.
Ob man den Charakter der „Winterreise“ mit persönlichen Erfahrungen von Schubert und Müller erklären will, die beide 1827 bzw. 1828 im Alter von Anfang 30 starben, oder ob man darin den Mehltau der Restaurationspolitik zu erkennen glaubt, der sich über den Deutschen Bund nach den Befreiungskriegen gelegt hatte – auch das Konzert in Glattbach ließ diese Frage offen. Eine andere Frage aber ist längst beantwortet: Im Mühlenforum darf man sich weiter auf große Konzerte im kleinen, intimen Kreis freuen – eine schöne Aussicht für alle Musikfreunde. Und tatsächlich gibt es kaum einen besseren Raum für intensive, atmosphärisch dichte Kammermusik als diesen kleinen, hellen Saal. Das führt zum letzten Lob der Akteure bei der „Winterreise“: Am Samstag haben sie es geschafft, sich mit ihrer durchaus dramatischen Interpretation des Zyklus und mit der vollen Stimme des Baritons, der längst locker große Opernhäuser füllt, auf die Bedingungen des relativ kleinen Raum einzustellen – ein Konzert, das keine Wünsche offen ließ.
Nach dem Stream im März war auf der Homepage der Alten Oper Frankfurt zu lesen: „Ein besinnlicher, besonders beglückender Liederabend weckte Hoffnungen auf baldige Normalität in Zeiten der Pandemie aber auch Sehnsüchte des Rezensenten, dem ungewöhnlichen Künstler Konstantin Krimmel bald „live“ begegnen zu dürfen. Der Rezensent des Konzerts am Samstag hatte dieses Glück und ist dafür, ganz sicher mit allen Besuchern, den Menschen, die das möglich gemacht haben, von Herzen dankbar.
~ Heinz Linduschka